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Entwicklung der Gothic-Szene

in Die Kultur und Herkunft der Gothic Szene 14.04.2010 16:20
von GraveYardAngel | 51 Beiträge

Anfangsjahre (1981–1989)

Die Gothic-Kultur entstand ab den frühen 1980er Jahren europaweit als musikkulturelle Jugendszene. Wie bei anderen Jugendkulturen erfolgte hierbei ein Tribalisierungsprozess[110], der in einer ersten Stufe etwa 1983 abgeschlossen war. Nicht ganz geklärt ist, ob die Gothic-Szene von England aus Verbreitung fand oder ob sich in anderen europäischen Ländern gleichzeitig Parallelszenen entwickelten. So tourten Gruppen wie Siouxsie and the Banshees oder The Cure bereits in den Jahren 1980/1981 durch Deutschland (unter anderem Hamburger Markthalle und SO36 in Berlin; im Rahmen der „Rock/Pop“-Sendungen wurde 1981 ein Auftritt der Banshees im ZDF übertragen) und konnten schon zu dieser Zeit zahlreiche Fans gewinnen. Auch die Post-Punk-Band Joy Division gab 1980 zwei Auftritte in Köln und Berlin und war demzufolge in Deutschland bekannt. England diente jedoch als Reiseziel sowie als Orientierungspunkt bezüglich Musik und Mode. Es fand somit ein Austausch auf internationaler Ebene statt.

Inspiriert durch weitere Künstler, wie Bauhaus, The Sisters of Mercy, Christian Death, Xmal Deutschland und UK Decay, entwickelten sich so beispielsweise im deutschsprachigen Raum zunächst kleinere, regionale Gruppierungen (Cliquen), die in der Punk- und New-Wave-Bewegung Westeuropas verwurzelt waren, untereinander jedoch kaum Kontakt hielten. Speziell in den Großstädten standen sich viele der Jugendcliquen infolge von Generationskonflikten feindlich gesinnt gegenüber. Die frühesten Entwicklungsansätze der Gothic-Bewegung in Deutschland lassen sich seit etwa 1982 in der ehemaligen Mauerstadt West-Berlin finden, die sich in den 1980er Jahren zu einem Wallfahrtsort der westdeutschen Gothic-Szene entwickelte und einen intensiven Austausch mit London pflegte. Hier trafen sich die Goths aus der gesamten Bundesrepublik am Bahnhof Zoo oder auf dem Breitscheidplatz; zu den bedeutendsten Diskotheken zählten in dieser Zeit das Trash im Stadtteil Kreuzberg (später „Altes Kaufhaus“ alias „A. K.“) oder das Linientreu.In Österreich entfaltete sich das U4 in Wien zu einem zentralen Szenetreffpunkt.

„Vor zehn oder zwölf Jahren fing es an, Jugendliche zu geben, die sich, angeregt durch akustische und optische Erscheinungen im Reiche des Poppes und des Rockes, in schwarze Tücher hüllten, sich die Haare dunkel und nach oben weisend machten und finster blickend durch die Großstädte schlichen. Wie sie sich selber nannten, weiß ich nicht. Aber ich erinnere mich an eine so zurechtgemachte Frau, die sagte, sie wäre eine »Gothic-Frau«. Andere nannten diese Menschen »Gruftis«...

– Max Goldt, Schriftsteller, Kolumnist und Musiker, 1992

Bereits in der Entstehungsphase der Gothic-Szene galt die erste Welle der Gothic-Musik etwa 1984 als erloschen. Bedeutsame Vertreter wie Bauhaus, The Cure, UK Decay, Specimen, The Southern Death Cult oder The Danse Society wandelten ihren musikalischen Stil oder gingen getrennte Wege. Diese Gegebenheit schlug sich bald auf die englische Regionalszene nieder, die schon in der Mitte der 1980er Jahre erste Verfallserscheinungen zeigte. War die Gothic-Bewegung in England primär eine Mode-Erscheinung unter vielen, die sich hauptsächlich in Clubs wie Clarendon Ballroom, Batcave, Kit Kat (alle drei London) oder The Phonographique in Leeds (bekannt durch die Veranstaltungsreihe „Black Sheep“) zusammenfand, so konnte sie im restlichen Europa, vor allem in den industriestärksten Regionen Deutschlands, Frankreichs und der Niederlande, Fuß fassen.

„Damals war es modisch, Goth zu sein. Deshalb war die Anhängerschaft größer. Als sich der Modegeschmack änderte, blieben die »wahren Goths« dabei. Aber die Leute, die nur der Mode gefolgt waren, wandten sich anderen Dingen zu.“

– Andrew Bachelor alias Damien DeVille, Lead-Gitarrist der britischen Gothic-Rock-Band Nosferatu

In Spanien beschränkte sich die Szene auf die Zentren Madrid, Barcelona und Saragossa.Sie war – ebenso wie Italiens Szene– nur eine kurzlebige Bewegung, die in der Mitte der 1980er abflaute und erst in den 1990er Jahren einen Aufschwung erfuhr. In den USA bildeten sich vor allem in den Küstenstädten Los Angeles, New York und Philadelphia gothic-spezifische Infrastrukturen heraus, während die als Rust Belt bezeichnete Region, mit Städten wie Boston, Detroit und Chicago, schwerpunktmäßig durch Post-Industrial, Electro-Industrial, Disco, House und Detroit Techno geprägt wurde und somit nur unwesentlich zur musikkulturellen Entfaltung beitrug. Los Angeles nimmt dabei eine gesonderte Rolle ein. Die Stadt avancierte zum Zentrum der Death-Rock-Bewegung, in deren Umfeld sich ein Teil der US-amerikanischen Gothic-Szene entwickelte. In Kanada bildete das Gebiet um Toronto, Montreal und Québec die kulturelle Kernregion.

Die Frisuren und Kleidungsstile der Goths waren zu dieser Zeit stark an das Erscheinungsbild der Punk- und New-Wave-Bewegung angelehnt oder wurden von den musikalischen Leitfiguren übernommen. Populäre Künstler wie Robert Smith (The Cure), Rozz Williams (Christian Death), Siouxsie Sioux (Siouxsie and the Banshees), Peter Murphy (Bauhaus) oder Jonathan Melton (alias Johnny Slut, Specimen) sind bis heute Idole der Gothic-Kultur und dienten hierbei als Vorbild.

„Es dauerte ein Jahr, bevor uns klar wurde, dass wir ein großes Publikum anzogen, Post-Punks, die sich in etwas verwandelten, das wir Wildebeests, wilde Kreaturen, nannten. […] Einerseits hatten wir ein Publikum, das wir durch unsere eigene Arbeit geschaffen hatten, andererseits waren wir auch ein wenig irritiert, neugierig und reichlich verwirrt: Wieso sieht unser Publikum so seltsam aus? Uns selbst war nicht bewusst, wie wir aussahen. Nach einer Weile wird man immun gegen die Schockwirkung des eigenen Outfits. Da wird das die Norm.

– Peter Murphy, Sänger der Gruppe Bauhaus

Ab 1984 wurde die Szene zunehmend auch in deutschen Punk-Fanzines erwähnt. So beklagte das Mettmanner Szenemagazin The Mettmist in einem Bericht über einen Auftritt der Band Christian Death im Club „Okie Dokie“ in Neuss:

„Wieder mal spät begann das Konzert der amerikanischen Oberdüster-Gruppe Christian Death. […] Das Publikum war ebenfalls sehr düster […] Einige waren in vollem „Christian Death“-Outfit erschienen. Na ja, an der Gruppe fand ich diese Klamotten ja toll. Aber sie total nachzumachen?“

– The Mettmist, deutsches Punk-Rock-Fanzine, 1984

Als weiterer Einflussfaktor gelten die regionalen Unterschiede bezüglich der Umwelt- und Lebensbedingungen und einem damit verbundenen Lebensgefühl. In Gebieten, die durch Industrie geprägt waren, herrschte vielmehr ein punk-lastiger Kleidungsstil vor. In Regionen, in denen ein historischer Architekturstil dominierte, fühlte sich hingegen ein Teil der Gothic-Szene von Epochen vergangener Tage inspiriert. So entstanden beispielsweise im süddeutschen Raum unterschiedliche Kleidungsstile, die sich an der Zeit der Romantik oder des Barock orientierten. Diese Stile werden häufig auch als Einfluss der englischen New-Romantic-Bewegung gedeutet.

Daneben ließen sich unzählige Goths von Filmfiguren aus Horror- und B-Movie-Klassikern wie Nosferatu, Die schwarze Katze, Der Rabe und The Hunger oder Filmkomödien wie The Munsters und The Comedy of Terrors inspirieren. Obwohl sie sich derselben Kultur zugehörig fühlten, unterschieden sich Goths, die sich an Horrorfilm- und Romanfiguren oder an Teilen der New-Romantic-Bewegung orientierten, schon früh von solchen, die eher dem Punk zugeneigt waren, sowohl was ihr Erscheinungsbild als auch ihre Lebensansichten anbelangte.

In der Mitte der 1980er begannen sich zunehmend Zeitschriften wie die BRAVO (Deutschland) und der Rennbahn-Express (Österreich) für das Jugendphänomen zu interessieren. So veröffentlichte die BRAVO unter anderem im März 1986 den Bericht „Die Gothics lieben Grüfte“. Schon im Februar des darauf folgenden Jahres startete mit „Ratte macht die Fliege“ eine achtteilige Gothic-Foto-Love-Story.

Aufgrund des Mangels an musikalischen Idolen begann jedoch ab etwa 1987 auch die Szene in Deutschland allmählich zu zerfallen. Diesem Verfall wirkten Gruppen wie The Sisters of Mercy, The Cure oder Fields of the Nephilim entgegen. Neben Robert Smith, der sich nach einem Ausflug in kommerzielle Popgefilde auf seine Dark-Wave-Wurzeln zurückbesann, waren insbesondere Andrew Eldritch (The Sisters of Mercy) und Carl McCoy (Fields of the Nephilim) führende Musiker dieser Ära. Letztere beeinflussten die Mode einer neuen, speziell in Großbritannien als Bonanzas bezeichneten Splitterkultur nachhaltig, obgleich das für die frühe Gothic-Kultur charakteristische punk- und wave-bezogene Erscheinungsbild weiterhin dominierte.

Andere, kulturell bedeutende Bands aus dem Gothic-/Dark-Wave-Umfeld waren The Mission, Dead Can Dance, Clan of Xymox, The Fair Sex, Pink Turns Blue, Psyche oder Girls Under Glass.

Zu jener Zeit entwickelten sich Diskotheken wie das Zwischenfall in Bochum-Langendreer, das Abby in Meßkirch, das Ohm in Mannheim, das Cräsh in Freiburg oder das Madhouse in Berlin zu wichtigen Szenetreffpunkten in Deutschland.


Weiterentwicklung (1990–1995)
In den frühen 1990er Jahren erlebte die deutsche Independent-Szene einen Aufschwung, durch die Wende und das Zusammenwachsen von Ost- und Westdeutschland wuchs das Interesse an Musik. Es erfolgte ein Austausch zwischen zwei Kulturen und verschiedene Plattenfirmen und Newcomerbands, wie Love Like Blood, Garden of Delight, Silke Bischoff oder The Tors of Dartmoor, etablierten sich innerhalb der heranwachsenden Gothic- und Wave-Bewegung.

Verschiedene Treffen wurden arrangiert, so zum Beispiel das Waver-Treffen am 16. Juni 1990 in Köln, das Wave-Gotik-Treffen am 29. und 30. Mai 1992 in Leipzig oder auch das Gothic-Treffen am 6. August 1992 in Berlin. Zahlreiche Musikmagazine, wie das Glasnost Wave-Magazin, Zillo, Sub Line, Gothic Press oder The Gothic Grimoire, etablierten sich auf dem deutschen Markt. Speziell das Zillo avancierte zum Sprachrohr der gesamten Independent-Kultur. Hier erfolgte die regionenübergreifende Kommunikation über einen Kleinanzeigenmarkt. Auf der Basis dieser Austauschmöglichkeiten wuchs im Laufe der Jahre eine Infrastruktur heran, bezüglich der man erstmals von einer landesweit ausgeprägten Gothic-Szene sprechen konnte.

Obwohl bereits in den 1980er Jahren entstanden, stieg erst in dieser Dekade die Nachfrage nach verwandten Musikrichtungen aus dem Dark-Wave-Umfeld, wie beispielsweise Neoklassik und Ethereal Wave – aber auch nach mittelalterlich inspirierter Musik. Künstler und Ensembles wie Love Is Colder Than Death, The Eternal Afflict, Qntal oder Estampie genossen einen hohen Stellenwert. Mit der Herausbildung der Neuen Deutschen Todeskunst gewann zunehmend die deutsche Sprache in den Clubs an Akzeptanz. Hier waren es Bands wie Goethes Erben oder Relatives Menschsein, die Teile der Gothic- und Wave-Bewegung hinsichtlich ihres Kleidungs- und Lebensstils erneut bestärkten.

Gemeinhin sind diese Dark-Wave-Unterarten im Laufe der Zeit derart miteinander verschmolzen oder gingen aus einem früheren Wave-Genre hervor, sodass eine klare Trennung und somit die genaue Zuordnung einer Band fallweise kaum mehr möglich ist.[127] So sind Spielarten wie Gothic Rock, Ethereal und Cold Wave nicht nur stilistisch verwandt und kulturell ineinander verzweigt. Etliche Gruppen, wie zum Beispiel die Cocteau Twins, The Frozen Autumn oder Engelsstaub, lassen sich unter Berücksichtigung ihrer gesamten Schaffensperiode sogar mehreren Substilen zuordnen (die Cocteau Twins zum Beispiel sowohl dem frühen Gothic Rock als auch später dem Ethereal; The Frozen Autumn untermalten anfangs ihren Electro Wave mit Gothic-Rock-Gitarren, Vergleichbares war bei den Frühwerken von Diary of Dreams zu beobachten).

Neben Deutschland verzeichneten auch andere Länder einen kleinen Aufschwung, insbesondere Großbritannien, mit Gruppen wie Nosferatu, Vendemmian oder Rosetta Stone, und die Vereinigten Staaten, mit Bands wie Lycia, The Wake oder Mephisto Walz. Einige dieser Gruppen erlangten weltweite Popularität. Eine Leitbildfunktion für das Ausland, vor allem für Österreich, Frankreich, Spanien und Brasilien, übernahm dieses Mal jedoch Deutschland. Damit ging die musikkulturelle Vormachtstellung, die Großbritannien in den 1980ern besaß, an Deutschland über.

„Ich glaube, wir sind uns gar nicht bewusst, dass das, was wir in den letzten vier Jahren mit dieser Musik in Deutschland erreicht haben, für das Publikum im Ausland das Paradies ist. Früher sind wir Deutschen nach England gefahren. Heute fahren Italiener, Franzosen, Belgier und Engländer nach Deutschland, um irgendeine Band zu sehen und zu treffen.

– Gunnar Eysel, Bassist der Gothic-Rock-Band Love Like Blood, 1994

Kultureller Niedergang (1996–1999)

In der zweiten Hälfte der 1990er erfuhr die Gothic-Szene einen deutlichen Einschnitt. Mit dem Verschwinden des Gothic Rock aus den Clubs und dem simultan verlaufenden Ausklingen der Dark-Wave-Ära verlor die Bewegung einen Teil ihrer Hauptinspirationsquelle – die Musik.[18]

„Lässt man das Jahr Revue passieren, so fällt es mir eigentlich schwer zu sagen, ob es in Bezug auf die Szene ein gutes oder ein schlechtes war. Ich musste aber (mit ein paar Freunden) feststellen, dass so ein richtiger Auftrieb wie zu Beginn der 1990er Jahre nicht mehr stattgefunden hat.

– Andreas Starosta, Herausgeber des „The Black Book“-Musikmagazins, Berlin 1996

„[…] zum ersten mal fiel mir ein Phänomen auf, das für mich ein Zeichen des inneren Verfalls der Szene ist: eine Großzahl der Bands verschwindet nach der Veröffentlichung ihres ersten Albums. […] Wo sind sie alle geblieben […] The Tors of Dartmoor, The Merry Thoughts, Substance of Dream... Liegt es an den Bands? Ist nach einem Album die Luft ’raus?

– Lara von Bergen, Redaktionsleiterin des „The Gothic Grimoire“-Musikmagazins, Koblenz 1996

Zahlreiche Bands, Labels und Musikzeitschriften stellten ihre Aktivitäten ein oder wandten sich stilistisch sowie inhaltlich anderen Bereichen zu. Besonders zwischen 1996 und 1999 führte dies szene-intern zu einem deutlichen Umschwung; mit jedem weiteren Generationswechsel zog sich die Gothic-Kultur stufenweise aus den Diskotheken zurück und entwickelte sich in vielen Regionen zu einer Randbewegung, die vor allem durch retrospektive Veranstaltungen und durch wenige gothic-nahe Bands, wie Faith and the Muse, Untoten, London After Midnight oder Sopor Aeternus, am Leben gehalten wurde. In vielen Klein- und Mittelstädten starb sie, beispielsweise infolge demographischer, biologischer oder interessensbedingter Veränderungen (zum Beispiel Ost-West-Verlagerung, Austritt aus der Pubertät, Rückzug ins Familienleben), gänzlich aus.

„Save the Wave – Ist die Szene noch zu retten?“ titelte 1997 der zweiseitige Bericht einer Ausgabe des Gothic-Magazines, in dem der Verfall der Wave-/Gothic-Bewegung und ihrer Werte thematisiert wird.

„Ob an diesem Niedergang der Gothic-Kultur all die unzähligen Neuerscheinungen schuld sind, die den Markt überschwemmen... ich weiß es nicht. […] Da ich selbst nicht in Clubs gehe, kann ich nicht einschätzen, was sich im Dark-Wave- und Gothic-Genre alles ereignet hat und welche Musik von den DJs gegenwärtig bevorzugt gespielt wird. Doch wann immer man mir berichtete, wie die Abende verliefen, musste ich fast jedesmal erfahren, wie furchtbar ernüchternd und langweilig es gewesen sei. Anscheinend liefen die ganze Zeit meist neuere Sachen, die einfach nur schlecht waren und man direkt dankbar wurde, sobald sich ein altes Sisters-Stück eingeschmuggelt hatte.

– Anna-Varney Cantodea, Sopor Aeternus, 1996

Wie schon eine Dekade zuvor erlebte auch das Ursprungsland Großbritannien zu dieser Zeit einen kulturellen Tiefpunkt, dessen Ursache sich jedoch nicht, wie in der Mitte der 1980er, in der stark reduzierten Anzahl szenerelevanter Bands fand, sondern der vielmehr dem Mangel eines geeigneten Zielpublikums zugrunde lag.

„Die britische Gothic-Szene hat momentan die Größe einer sehr kleinen Klo-Schüssel, und der größte Teil davon ist beschissen. Es scheint eine Menge Bands zu geben, die als Gothic bezeichnet werden, aber es scheint dafür kein Publikum mehr zu geben oder wenigstens eine größere Untergrund-Zuhörerschaft. Um ehrlich zu sein, bewegt sich Gothic in England auf dem niedrigsten Level seitdem es überhaupt anfing.

– Steve Weeks, Sänger der britischen Gothic-Rock-Band Revolution by Night, 1996

„Außerdem scheint es plötzlich weniger neue UK-Gothic-Bands zu geben als vor etwa zwei Jahren. Vielleicht haben sich zu viele von ihnen aufgrund mangelnder Zustimmung aufgelöst?!

– John Berry, Gitarrist der britischen Gothic-Rock-Band Die Laughing, 1996

Eileen Bowe, Sängerin und Gitarristin der Band Dichroic Mirror, bestätigt für die Westküste der USA, besonders für den Raum Los Angeles, eine gleichartige Entwicklung und berichtet von einem Szenesterben. Die ebenfalls aus dem Umkreis von Los Angeles stammende Band London After Midnight äußert sich dazu ähnlich und spricht von einem Abwandern in alternative Musik- und Kulturbereiche.Nicht zuletzt aus diesem Grund legten Bands wie Mephisto Walz, Shadow Project, Autumn oder This Ascension in der Mitte der 1990er Jahre langjährige Veröffentlichungspausen ein.

„Ich habe den Eindruck, dass diese ganze Gothic-Sache zeitlich begrenzt ist und ihrem Ende entgegengeht. […] Es scheint eine Renaissance für dunklere, theatralischere Musik zu geben, aber ich glaube nicht, dass sie sich uns als in dem bekannten Sinne von »Gothic« präsentiert.

– Douglas Avery, ehemaliger Schlagzeuger der Band London After Midnight, 1996

Mitverantwortlich an diesem Umstand war die stetig wachsende Popularität szenefremder, vor allem metal-orientierter Genres, denen auf den Club- und Konzertveranstaltungen der Alternative- und Schwarzen Szene und in den renommierten Independent-Zeitschriften Zillo, Orkus und Sonic Seducer nach und nach mehr Platz eingeräumt wurde. In den Jahren 1995 und 1996 traf diese Schwerpunktverlagerung zunehmend auf den Unmut der Leserschaft:

„Niemand kann ernsthaft erwarten, dass in jedem Zillo über seine bevorzugten Gruppen berichtet wird. [...] Aber findet Ihr nicht auch, dass Ihr Euch manchmal zu weit von Euren Grundsätzen, Euren Ursprüngen entfernt? Gothic, Punk und Independent im weitesten Sinne – das sollte hauptsächlich Euer Themengebiet sein. Für Metal gibt es Metal-Zeitschriften. Warum über solche Gruppen auch noch im Zillo berichten?

– Zillo-Leserbrief, Juni 1995

Zu dieser Zeit ahnte noch niemand, dass dieser Wandel die Zukunft der Schwarzen Szene entscheidend prägen sollte: Der Grundstein für die Entwicklung der „Gothic-Metal-Szene“ war gelegt, die sich zunächst aus Anhängern der Metal-Szene und Teilen ehemaliger Goths rekrutierte, nur wenig später jedoch schon reine Gothic Metaller hervorbrachte, die zu den subkulturellen Ausgangsformen, insbesondere zur Gothic- und Dark-Wave-Bewegung, kaum noch einen Bezug hatten:

„Neue Generationen kamen und alte verschwanden. Das Problem an dieser Sache ist, dass das heutige Publikum einfach nicht mehr die Wurzeln der Schwarzen Szene kennt. Auf den größten Teil der Leute wirkt Gothic Rock, wie zum Beispiel von Christian Death, Screams for Tina, Mephisto Walz, The Sisters of Mercy oder Fields of the Nephilim, angestaubt und langweilig, wohingegen sie sich dann bei den wöchentlichen Club-Veranstaltungen ihre Köpfe zu Moonspell, Type O Negative und Crematory schütteln.“

– Thomas Thyssen, Journalist und Szene-DJ, 1997

Das 1980er-Jahre-Revival (2000–2008)

Erst die Jahrtausendwende brachte mit Bands wie Cinema Strange, Diva Destruction, Bloody Dead and Sexy, Zadera, Scarlet’s Remains und Chants of Maldoror einige Neuerungen und führte hierdurch auch ein jüngeres Publikum an die traditionelle Gothic-Musik heran. Tonangebend bei diesem wiederholten Aufschwung waren Labels wie Alice in... (Deutschland), Strobelight Records (Österreich) und Infrastition (Frankreich). Anders als in den 1990ern, ist dieses Revival jedoch nur auf wenige Ballungsräume, wie Berlin, Leipzig, Westfalen, Los Angeles oder London, beschränkt und knüpft kulturell direkt an die 1980er Jahre an. Damit teilt die Gothic-Kultur das Schicksal anderer Post-Punk-Szenen, wie Oi! und Psychobilly, die sich vornehmlich in den Großstädten verfestigt haben. Eine hohe Anzahl provinziell verteilter Szeneangehöriger nutzt aus diesem Grund das Internet als Kommunikationsmedium.

„Es existiert eine unüberschaubare Vielfalt an Internetpräsenzen, persönlichen Seiten, Informationsseiten, Foren und zentralen Seiten (welche als Anlaufpunkte dienen und zu weiteren spezifischen Angeboten führen) sowie kommerziellen Webpräsenzen mit Vertrieb von Szenebedarf.

Vielerorts wird die Infrastruktur fast ausschließlich über das Internet regionen- und länderübergreifend aufrechterhalten („Virtuelle Infrastruktur“). So ermöglicht es zum Beispiel die Bekanntgabe kleinerer Gothic-Veranstaltungen, die in den großen Medien kaum Erwähnung finden würden. Ebenso sind der Verbreitung und Präsentation szene-relevanter Musik (auch der eigenen) über Plattformen wie MySpace, Soulseek, CD Baby oder last.fm kaum Grenzen gesetzt.


zuletzt bearbeitet 14.04.2010 16:25 | nach oben springen


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